
Meningokokken-Erkrankung
Amputation nach einer sehr seltenen Meningokokken-Erkrankung – aus der Arbeit von AMPU VITA und AMPU KIDS.
Andrea Vogt-Bolm setzt sich mit ihrem gemeinnützigen Institut AMPU VITA e. V. für Menschen ein, die von Amputationen betroffen sind. Auch bei Meningokokken-Erkrankungen besteht die Gefahr, dass Gliedmaßen als Folge entfernt werden müssen. Am häufigsten erkranken Babys und Kleinkinder an den Bakterien, da ihr Immunsystem noch nicht vollständig ausgebildet ist.1

Meningokokken-Erkrankungen sind zwar sehr selten, können allerdings innerhalb von wenigen Stunden lebensbedrohlich werden.1 Bei 20 Prozent der Betroffenen kann es zu Folgen wie Vernarbungen oder dem Verlust von Gliedmaßen kommen.1 Zudem versterben in Deutschland ca. 10 Prozent aller Patient*innen trotz intensivmedizinischer Versorgung.2 Andrea Vogt-Bolm hat mit dem Projekt AMPU KIDS ein Forum für von Amputation betroffene Kinder und deren Eltern geschaffen. Heute berichtet sie von ihren Erfahrungen.
Was macht Ihr Verein und was hat Sie zur Gründung motiviert?
Wir beraten und begleiten amputationsbetroffene Menschen aller Altersgruppen, jeder Herkunft und jeder Amputationsursache. Dass für Selbsthilfe und Austausch gerade in Norddeutschland keine Anlaufstelle existierte, gab mir 2005 den Impuls, in Hamburg einen gemeinnützigen Verein zu gründen. Daraus entstand dann die Beratungsstelle AMPU VITA e. V., die im April 2006 mit Unterstützung unabhängiger Stiftungen ihre Arbeit aufgenommen hat. Bei AMPU KIDS, einem Projekt innerhalb des Vereins, können sich von Amputation betroffene Kinder und deren Eltern austauschen und sich gegenseitig helfen, das eigene Schicksal anzunehmen und Zukunftsperspektiven zu entwickeln. Bundesweit werden jährlich rund 70.000 Amputationen durchgeführt, bei Kindern sind es rund 1.200.3 Daran lässt sich erkennen, wie relevant unsere Arbeit für viele Menschen ist.
Was schätzen Sie am meisten an Ihrer Arbeit?
Den engen Kontakt zu Menschen, zu Familien, die sich gerade in einer sehr schwierigen, möglicherweise lebensbegrenzenden Situation befinden. Wir stehen ihnen mit unserer Erfahrung, unserem Wissen und wenn nötig auch einer gewissen Hartnäckigkeit zur Seite, um ihnen dabei zu helfen, sich in ihrer neuen Lebensrealität zurechtzufinden. Besonders schätze ich an meiner Arbeit, dass ich sehe, wie die Menschen langsam ihr neues Leben annehmen und wieder Hoffnung und Zuversicht schöpfen. Ob ich es mit ganz jungen oder auch älteren Betroffenen zu tun habe: sich aufrichtig in die Augen blicken zu können und zu begreifen, dass die Amputation als Teil des Lebens angenommen wird, das bringt häufig einen Gänsehautmoment. Wir sind dankbar, Betroffene und ihre Angehörigen begleiten zu können – das gilt insbesondere für die Kleinsten und ihre Eltern.
Wie verändert sich das Leben der Kinder und ihrer Familien nach solchen Schicksalsschlägen?
Das ist sehr unterschiedlich und kommt wesentlich auf die Amputationsursache und die generellen Lebensverhältnisse an. Eine Amputation ist für jede Familie ein schwer fassbares und teilweise traumatisches Erlebnis – auf einmal wird das bisher bekannte Leben auf den Kopf gestellt und der Fokus liegt vollkommen auf dem betroffenen Kind. Da es bei Amputationen in Folge von Meningokokken-Erkrankungen oft zu Mehrfachamputationen kommt und weitere Behinderungen wie beispielsweise schwere Hautdefekte mit Vernarbungen auftreten können, reichen eine „einfache“ Prothesenanpassung und Reha in der Regel nicht aus.
Viele betroffene Kinder müssen sehr oft operiert werden. Dabei geht es nicht nur um Knochenverkürzungen, sondern auch um plastische Operationen, Hauttransplantationen und chirurgisch-orthopädische Eingriffe. Die Kinder leben die erste Zeit meist im Krankenhaus. Das übrige Leben der Familie muss weitergehen und eventuell ist eine Anpassung der Wohnsituation notwendig. Auch das soziale Umfeld wie Kindergarten und Schule muss zu diesem neuen Leben passen. Wir sehen die Kinder und ihre Familien mit ungeheuer vielen Herausforderungen konfrontiert. Unser Ziel ist es, trotz Schwere des Schicksalsschlages ein wenig Leichtigkeit und Hoffnung in die Situation zu bringen, indem wir Fragen beantworten, aber auch Fragen stellen, um auf einen guten, gangbaren Weg zu führen.
Wie machen Sie den Kindern und den Familien wieder Mut?
Zunächst einmal: Zuhören! Dass die Kinder, ihre Eltern und auch die Geschwister ein verlässliches Gegenüber haben, das ihre Anliegen versteht und ihre Erfahrungen kennt, hilft bereits sehr. Auch gemeinsame Gespräche mit Ärzt*innen oder beispielsweise Informationsveranstaltungen im Kindergarten sind möglich. Wir zeigen außerdem Prothesen und lassen die Kinder diese erfühlen und erfahren, wodurch Berührungsängste abgebaut werden. Bei der baulichen Anpassung von Schulen wird es oft schwieriger, da kann unsere Erfahrung bei Behörden durchaus nützlich werden. Wichtig ist uns nicht nur die individuelle Beratung, sondern darüber hinaus das ungezwungene und unkomplizierte Zusammenbringen vieler Familien, die ähnliche Situationen erlebt haben.
Haben Sie selbst Betroffene erlebt, die durch eine Meningokokken-Erkrankung Gliedmaßen verloren haben? Gibt es einen Fall, der Sie besonders geprägt hat?
Ja, obwohl Meningokokken-Erkrankungen sehr selten sind, habe ich das mehrfach. Wir betreuen durchschnittlich zehn Familien pro Jahr, die aufgrund einer Meningokokken-Erkrankung von Amputationen betroffen sind. Bei diesen Amputationen prägt jeder einzelne Fall durch seine ungewöhnliche Schwere.
Wie sollten andere Menschen mit Betroffenen umgehen? Haben Sie Tipps oder Wünsche?
Ganz normal! Kein Mitleid! Und lieber Fragen stellen, als verschämt wegzuschauen. Offen aufeinander zugehen, Respekt zeigen, auf Augenhöhe miteinander sprechen und dabei wirklich zuhören, Fragen weniger aus Neugier und mehr aus Interesse stellen – das sind meine Tipps und zugleich meine Wünsche. Übrigens können wir aus dem unbefangenen Umgang von Kindern mit allem Neuen noch viel lernen.
Welches Feedback erhalten Sie von Eltern von betroffenen Kindern?
Bei Meningokokken-Erkrankungen hören wir oft, dass sich viele Eltern gar nicht bewusst waren, dass ihr Kind nicht ausreichend geschützt war. Viele wissen nicht, dass es verschiedene Impfungen gibt, um dieser Krankheit und damit auch der Gefahr einer Amputation vorzubeugen. Auch erfahren wir immer wieder, dass Eltern zwar überglücklich sind, dass ihr Kind die Meningokokken-Erkrankung überlebt hat, sie dennoch eine ganze Weile brauchen, bis sie den Schicksalsschlag der Amputation verkraftet haben. Von vielen Eltern hören wir: „Welch ein Glück, dass es euch gibt!“, das freut uns natürlich. So oder auf andere Weise signalisieren uns alle Mütter und Väter, dass sie froh sind, dass es professionellen Beistand gibt und sie ein Forum gefunden haben, um sich mit anderen Betroffenen auszutauschen. Das gab und gibt vielen Familien Hoffnung.
Wie wichtig finden Sie Aufklärungsarbeit wie durch die Kampagne „Meningitis bewegt.“ – gerade in Hinblick darauf, dass es in diesem Fall vermeidbare Erkrankungen sind? Was wünschen Sie sich?
Nur Aufklärung kann dabei helfen, in Zukunft vermeidbares Leid zu reduzieren, deswegen finde ich die Kampagne sehr wichtig und wünsche mir, dass alle Eltern umfassend, unkompliziert und niedrigschwellig aufgeklärt werden, welche Auswirkungen eine sehr seltene, aber schwerwiegende Meningokokken-Erkrankung haben kann. Nur wenn Eltern umfassend über die verschiedenen Meningokokken-Impfungen informiert sind, können sie eine bewusste Entscheidung treffen – für ihr Kind!
Weitere Infos unter www.meningitis-bewegt.de
1 Deutsches Grünes Kreuz: „Häufige Fragen und Antworten zu Meningokokken-Erkrankungen“. Verfügbar unter: https://bit.ly/2X7aroA. Januar 2023.
2 RKI: „Infektionsepidemiologisches Jahrbuch meldepflichtiger Krankheiten für 2019“. Verfügbar unter: https://bit.ly/3dkU3e7. Januar 2023.
3 https://bit.ly/3D8qSrd. Januar 2023.