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15. Dezember 2023

Tipps für Schreibabys

Die meisten werdenden Eltern gehen davon aus, dass ihnen mit der Geburt ihres Babys die glücklichste Zeit des Lebens bevorsteht. „Womit die wenigsten rechnen, ist ein sogenanntes Schreibaby“, weiß Silke Scholz, Ergotherapeutin im DVE (Deutscher Verband Ergotherapie e.V.). Doch das ist gar nicht so selten. Laut Schätzungen sind es bis zu 20% Babys, die übermäßig viel schreien und das aus Gründen, die sich den Eltern nicht erschließen. Schreibabys sind reizempfindlich und können sich nicht gut selbst beruhigen. Eltern können jedoch bei spezialisierten Ergotherapeut:innen lernen, ihr Baby entsprechend zu fördern. Das sorgt für einen entspannteren und freudigeren Alltag und ist zudem eine wichtige, präventive Maßnahme.

Es ist ein Teufelskreis aus Schreien, Schlafmangel, sich unentwegt um das Baby kümmern, es – meist in viel zu kurzen Abständen – zu füttern und zunehmendem Stress. Wer ein Schreibaby hat, braucht Hilfe. Die Ergotherapeutin Silke Scholz bestärkt Eltern, deren Baby aus für sie unerklärlichen Gründen und sehr häufig weint, mit dem beziehungsweise der Kinderärzt:in oder der Hebamme darüber zu sprechen und sich Hilfe zu holen. Die Belastungen der Eltern sind enorm und die Folgen, die sich entwickeln können, wie etwa eine gestörte Eltern-Kind-Bindung, sollte niemand unterschätzen.

Drei Komponenten einer Regulationsstörung

Oft steckt eine Regulationsstörung hinter dem vielen Weinen und Schreien. Die Expertin erklärt diesen Symptomkomplex: „Regulationsstörungen setzen sich aus drei Ebenen zusammen: Das eine ist eine besonders sensible Regulations- und Verarbeitungssituation beim Baby“. Im Alltag zeigt sich das unter anderem so, dass Babys besonders empfindlich auf Reize von außen reagieren, das Weinen sogar dann anfangen, wenn die Mutter es lediglich aufnimmt oder ablegt. „Die zweite Komponente“, so die Ergotherapeutin Scholz „besteht aus der elterlichen Überlastung, Überforderung und Erschöpfung und der dritte Aspekt ist die gestörte Interaktion mit dem Baby“. Alle drei hängen zusammen, das Eine ergibt sich aus dem Anderen, was sich als Handlungsablauf etwa so beschreiben lässt: Legen Mütter von Schreibabys das Baby ab, beispielsweise zum Wickeln oder in den Kinderwagen, beginnt das Baby zu weinen. Ein normaler Reflex der Mutter: sie nimmt es wieder auf, um es zu trösten, doch das kann länger dauern, weil die Lageveränderung es verunsichert. Die Mutter, die das nicht weiß und nicht erkennen kann, was ihr Baby hat, versucht, es mit Worten, Singen, Summen oder anderen Möglichkeiten zu besänftigen. Ist das Baby endlich ruhig, schweigt in aller Regel auch die inzwischen entkräftete Mutter. Das Baby blickt anstatt in ein freudestrahlendes – jetzt macht es schließlich alles „richtig“ und hat sich beruhigt – in ein erschöpftes Gesicht. Nur zu verständlich; denn das Schreien und Weinen stresst ungemein und ist anstrengend für die Eltern; sie sind nicht mehr zu einer passenden Interaktion imstande oder wissen gar nicht, wie bedeutend diese ist.

Ergotherapeutin räumt Mythos auf

„Keine Mutter hat Schuld an solchen Situationen“, erklärt die Ergotherapeutin Scholz und führt weiter aus: „Die meisten haben von ihrer Mutter oder dem Umfeld gelernt: „aushalten“ oder „das verwächst sich“. Was betroffene Mütter von diesen Menschen in den wenigsten Fällen lernen, ist ein zielgerichteter Umgang mit ihrem Schreibaby“. Kommen Eltern zum ersten Termin bei Ergotherapeut:innen, steht daher zunächst Aufklärung – der ergotherapeutische Fachbegriff hierfür lautet „Edukation“ – auf  dem Plan. Die Eltern erfahren die Gründe, woher die Besonderheit ihres Babys rühren kann: Es liegt entweder eine genetisch bedingte, durch die Schwangerschaft oder die Geburt hervorgerufene fehlende Regulationsfähigkeit vor. Das Gehirn eines Schreibabys reagiert mit einer erhöhten Erregung auf Reize von außen. Oder auf Reize in sich selbst, beispielsweise durch Koliken. Diese werden noch verstärkt, wenn es in zu kurzen Abständen gefüttert wird und frische Milch immer wieder auf halbverdaute Milch im Magen kommt. Koliken haben sehr viele Babys. Jedoch weiß man mittlerweile, dass es Babys gibt, die mit ihren Koliken klarkommen. Ein Schreibaby hingegen ist auch hier besonders empfindsam. Es schreit los, wenn etwas vermeintlich Irritierendes passiert – selbst wenn sich die Irritation im eigenen Körper abspielt.

Ergotherapeutische Elternschulung

Ergotherapeut:innen wie Silke Scholz gehen immer auf die Bedürfnisse und Anliegen der Eltern ein. Oder auf bestimmte Situationen. Kommen die Eltern mit einem schreienden Baby zum ersten Treffen, weil es vielen neuen Eindrücken und möglicherweise der Aufregung der Eltern ausgesetzt ist, beginnt die Therapie nicht wie zuvor beschrieben mit Aufklärung, sondern gleich mit ergotherapeutischem Handeln. Die Ergotherapeutin bittet in solchen Fällen die Eltern darum, sie direkt anleiten zu dürfen. Sie zeigt und erklärt ihnen dann passende Beruhigungsstrategien. Meist gelingt es gemeinsam, das Baby zur Ruhe zu bringen, was zum einen dann noch etwas Zeit für den Part „Edukation“ bringt, aber, was viel wichtiger ist: die Eltern haben es dank der Unterstützung der Ergotherapeutin geschafft, das Baby zu beruhigen und sie wissen jetzt, wie ihnen dies später selbst wieder gelingen kann. Was nahezu immer klappt ist: Schweigen, Ruhe bewahren, das Baby zunächst einfach nur halten, es beim Ablegen sehr langsam bewegen, adäquate Interaktionen wie Blickkontakt und Lächeln. Hat das Baby sich beruhigt, darf es dafür gelobt und angestrahlt werden. „Das sind bereits erste prägende Verhaltensweisen der Eltern“, verdeutlicht die Ergotherapeutin, weshalb es so wichtig ist, dass die Eltern angemessen auf das Schreien ihres Babys reagieren. Sie zeigt gleichzeitig Verständnis für alle Eltern und betont, dass es leicht zu Fehlinterpretationen kommen kann, solange das Baby sich nur über Weinen und Schreien oder Glucksen und Lächeln artikulieren kann.

Entwicklungsunterstützende Maßnahmen erlernen

Ist das Baby über drei Monate alt, kann es zunehmend die Zusammenhänge von Ursache und Wirkung erkennen. Ab diesem Zeitpunkt steht es vor der zusätzlichen Herausforderung, neben der Regulation der Reize auch die Regulation von Emotion und Verhalten zu lernen.  Hier bekommen die Signale der Eltern eine besondere Bedeutung, da das Kind sein Verhalten nach ihnen ausrichtet. Reagiert die Mutter auf das Weinen in unangenehmen Situationen wie etwa dem Ablegen immer mit viel Aufmerksamkeit, jedoch weniger zugewandt, wenn das Kind (endlich) ruhig auf dem Wickeltisch liegt, wird das Kind diesen Zusammenhang erkennen. Es wird das Verhalten, welches mehr Zuwendung bekommt, öfter zeigen. „Das kann dazu führen, dass die Eltern unwissentlich die Regulationsstörung verstärken“ konstatiert die Ergotherapeutin Silke Scholz. Sie versteht die Eltern, deren Liebe meist keine Grenzen kennt und die sich bis zur Erschöpfung engagieren. Dennoch ist es in Hinblick auf eine gesunde Entwicklung wichtig, dass die Eltern sich von Anfang an ihrem Baby gegenüber so verhalten, dass es beim Lernen von Regulation Unterstützung in die richtige Richtung erhält – gerade, wenn es sich um ein Schreibaby handelt. „Es ist keinesfalls so, dass sich in der Vorwärtsperspektive eine Entwicklungsproblematik für Kinder mit einer Regulationsstörung vorhersagen lässt“, beruhigt die Ergotherapeutin Eltern mit einem Schreibaby, bei dem eine Regulationsstörung diagnostiziert wurde. Es ist aber durch Studien, beispielsweise vom Kinderzentrum München, belegt, dass Kinder mit Verhaltensschwierigkeiten und Aufmerksamkeitsdefiziten oftmals im ersten Lebensjahr deutliche Schwierigkeiten hatten. Es besteht also ein Risiko, dass sich aus einer Regulationsstörung weitere Entwicklungsschwierigkeiten entwickeln können. Weitere, triftige Gründe also, ein Schreibaby nicht einfach hinzunehmen, sondern sich früh um professionelle Unterstützung zu bemühen.

Informationsmaterial zu den vielfältigen Themen der Ergotherapie gibt es bei den Ergotherapeut:innen vor Ort; Ergotherapeut:innen in Wohnortnähe auf der Homepage des Verbandes unter https://dve.info/service/therapeutensuche

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